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Hans-Joachim Lenger
Spermatologie und Krise
Marx, die Schrift und die Spekulation

(Vortrag auf einer Marx-Tagung der Universität Frankfurt/Oder)

 


Seitdem, was zunächst eine "internationalen Finanz- und Kreditkrise" genannt wurde, auch die so genannte Realökonomie erfasst hat und damit Begriffe des "Realen" ebenso wie die einer "Ökonomie" zur Disposition stellt, Bestimmungen der Häuslichkeit des oíkos ebenso wie die des nómos eines Gesetzes; und seitdem sich diese Disposition nun schon seit Monaten im Wirtschaftsteil internationaler Tageszeitungen, in Börsenkommentaren, Expertisen und Regierungsverlautbarungen dis-poniert, im Wortsinn also auseinanderlegt oder sogar zerlegt, ohne dass ein Ende absehbar wäre, scheint eine marginale Marx'sche Formulierung irritierend genug, um bei ihr einzuhaken und sie zum Ausgangspunkt einiger Überlegungen zu machen.


Sie findet sich im Dritten Band des Kapitals, in einer Parenthese, die Marx sagen lässt, "wie das zinstragende Kapital überhaupt die Mutter aller verrückten Formen ist, so daß z.B. Schulden in der Vorstellung des Bankiers als Waren erscheinen können…" (1) Nun hat man das zahlende Publikum in den vergangenen Monaten mit derart "verrückten Formen" ja hinlänglich vertraut gemacht, wohl allein schon, um es weiteren Überraschungen gegenüber abzuhärten; etwa mit jenen Praktiken einer "Verbriefung", in der die Schuldverschreibungen amerikanischer Häusle-Bauer zu Paketen umgepackt, neu verschnürt und mit großem Gewinn auf so genannten Finanzmärkten verhökert wurden.


Denn die verrückte "Vorstellung" dieses postalischen Systems blieb ja keineswegs aufs so genannte Reich der Ideen beschränkt. Ebenso wenig reduziert sie sich auf eine Inszenierung, wie man sie als theatralische Vorstellung kennt. Viel eher sprengt sie alle Einfassungen und Rahmungen, und seien es die eines Bühnenraums. Wie alle Ausnahmezustände, so verdienen auch solche Eklats jedenfalls jede Aufmerksamkeit. Denn die verrückten Vorstellungen gehen mit Ent-Stellungen einher, die einen doppelten Vorzug aufweisen. Ebenso, wie sie etwas en-tstellen, eine Physiognomie etwa, die sich verzerrt, so ent-stellen sie auch, was zuvor ver-stellt war. Solche Ent-Stellungen ver-rücken gewissermaßen, was bestimmte Sachverhalte zuvor nicht hatte hervortreten lassen, sie rücken also beiseite und stellen eben dies zu. Und das lässt sich bei Marx dann lesen. "Gibt es etwas Verrückteres", so notiert er im bereits erwähnten Dritten Band, "als z.B. die Bank von England 1797 bis 1817, deren Noten nur durch den Staat Kredit haben und die sich dann vom Staat, also vom Publikum, in der Form von Zinsen für Staatsanleihen, bezahlen lässt für die Macht, die der Staat ihr gibt, diese selben Noten aus Papier in Geld zu verwandeln und sie dann dem Staat zu leihen?" (2) Es genügt zu lesen, um sich in der verrückten Welt wieder zu finden, in der man es auch heute noch auszuhalten hat, bis auf weiteres zumindest. Nicht anders nämlich verschulden sich die öffentlichen Haushalte gerade in diesen Wochen und Monaten mit unvorstellbaren Milliardenbeträgen, um jene Banksysteme zu stützen, bei denen sich dieselben öffentlichen Haushalte dann mit neuen Krediten versorgen, um jene Schulden abzubezahlen, die ihnen dabei entstanden sind, und nicht zuletzt die zuvor kreditierten Kapitalgeber mit fälligen Kreditzinsen zu versorgen.


Und doch, nicht weniger irritierend als diese Verrücktheiten dürfte deshalb die Metaphorik sein, in der sich die Marx'sche Anklage vorträgt. Denn tatsächlich durchquert das Spiel von Verstellungen, Entstellungen und Zustellungen nicht nur die Verhältnisse. Es beherrscht auch die Beweisführung des Anklägers, der diese Verhältnisse vor Gericht stellt. Die Metapher der "Mutter" etwa, aus der alle diese Verrücktheiten hervorgehen sollen, ist so wenig unschuldig wie jede andere Metapher auch, und sei es die der "Verrücktheit". Warum also springt sie hier ein? Worin bestehen ihre Techniken, worin möglicherweise die Techniken der Metapher "im allgemeinen"? Eingeführt, um einen "eigentlichen Begriff" durch einen "übertragenen" zu ersetzen, versetzt oder verrückt ihn die Metapher seinerseits an einen anderen Schauplatz. Und, damit nicht genug: sie lädt ihn so mit einem Mehr-an-Bedeutung auf, lässt ihn, um einen gewissen Mehrwert bereichert, zu sich zurückkehren - ganz so wie ein semiotisches Kapital, das mit Zinsen schwanger geht, und sei es das Kapital jener "Revolution", an die Marx seinen Text adressiert.

 

I.
Was nämlich diesen "anderen Schauplatz" angeht, so ruft die "Mutter aller verrückten Formen" offenbar eine ganze Familienszene auf den Plan. Bekanntlich ist diese Szene bei Marx keineswegs singulär. Nicht nur in der Kritik der politischen Ökonomie kehrt sie in vielfachen Anspielungen wieder. "Arbeit" beispielsweise, so wird Marx nicht müde zu zitieren, so klingt es noch in seiner Kritik des Gothaer Programms nach, "ist nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater, wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter." (3) Dies, so will es scheinen, soll den unhintergehbaren Ausgangspunkt jeder weiteren Überlegung umreißen. Nützliche Arbeit, so weiß es die marxistische Klippschule seither, wird - einer historisch-überhistorischen Bestimmung gleich - in jeder gesellschaftlichen Ordnung geleistet. Die genealogische Allianz von Arbeit und Erde, so einer ihrer Lehrsätze, charakterisiert jede Ökonomie, schreibt der Ökonomie "im allgemeinen" das Gesetz vor. In sich selbst regulär, garantiert dieses Gesetz nicht nur die Regularität von Hervorbringungen, die nützliche Arbeit am Naturstoff zu Gebrauchswerten amalgamiert. Mehr noch: die familiale Genealogie des Vaters verbürgt, in "ökologischer Absicht" gleichsam, eine Traditionslinie der Geschlechter, die den Gesellschaften das Eigentum an der Erde apodiktisch entzieht, um diese Erde in verbessertem Zustand den Nachfahren vererben zu können: "Selbst eine ganze Gesellschaft", schreibt Marx, "eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen." (4)


Und doch, umso weniger haben es patrilineare Bindungen dieser Art nur mit rechtmäßigen Abkömmlingen oder Söhnen zu tun. In diesen Familienszenen geht es drunter und drüber, gibt es Verrückungen und Verrücktheiten, die alle Normalitäten und Gewohnheiten durchkreuzen. Gewisse Verwirrungen vorausgesetzt, tauchen dann Sprösslinge auf, die aus der Art schlagen, unrechtmäßige Bastarde oder Missgeburten, die das genealogische Ordo des Vaters im Innersten bedrohen. Es handelt sich um Nachkommen, die sich ihrem angestammten Platz entziehen, diesem Platz entrücken und dann als "verrückte Formen" im Wortsinn eine furchtbare Monstrosität an den Tag legen. All dies zeigt die Marx'sche Kritik denn auch unwiderlegbar - und wer wollte es leugnen, wo für einen Banker Schulden zu Waren werden, die sich sogar mit Gewinn verkaufen lassen? Wer immer jedenfalls in dieser verrückten Welt zu lesen, zu verstehen und zu agieren sucht, sieht sich unversehens in eine Wüste der Ökonomie und des Sinns verschlagen.


Woraus nun entspringt die tief greifende Störung, woraus die Verrücktheit, die sich im zinstragenden Kapital abzeichnet? Jeder Kredit, so wird sich vorläufig sagen lassen, spielt im Medium der Zeit. Er besteht im Credo eines Glaubensbekenntnisses, das sich auf Zäsuren einer Antizipation und insofern eines Aufschubs stützt. Vorweggenommen wird, was später, zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, als Schuld zu erstatten sein wird, die sich folglich als Kredit adressiert oder als Schuldverschreibung verbrieft. So jedenfalls das Credo des Kredits. Ein postalisches System, das über der Zustellung wacht, steht für dieses Glaubensbekenntnis ein. Es lässt Rechte und Ansprüche zirkulieren, indem es sie in verbriefte Ansprüche verwandelt. Sie sind neben dem Adressaten mit einem Zeitindex versehen, der ihre Zustellfristen terminiert. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Briefe ihren Bestimmungsort erreichen, um sich als das zu bewähren, was sie sind: Briefe einer Schuld - adressiert mit jener Lacan'schen Präzision einer symbolischen Ordnung, die sich an ihrem Ort, zu ihrer Zeit zustellt.


Doch zugleich ist das alles andere als selbstverständlich. Das sýmbolon dieser Ordnung, das sich zum Kontrakt der Gastmarke fügte, so lernten wir von Hans-Dieter Bahr, wird des Risses nämlich nicht ohne weiteres inne, der die Bruchstücke dieses sýmbolon spaltete. Indem er im Moment seiner Zusammenfügung als Wiederholung dieses Spalts hervortritt, macht sich im sýmbolon denn auch ein Gemurmel vernehmbar, das wie aus einem "Jenseits" hervortritt: unentscheidbar, wie Hans-Dieter Bahr sagt, weil "hin- und hergerissen vom Verdacht, der Gast, der in diesen Rissen auftaucht, werde sich als göttlich ‚symbolischer' oder ‚diabolischer' Traum-Bote erweisen." (5) Solche Traum-Boten jedenfalls tauchen postalisch aus Virtualitäten auf, die einem ungeheuerlichen Verdacht ausgesetzt sind. Sie könnten sich als unbeherrschbar erweisen. Schuldbriefe, so wurde uns erst neuerdings von den zuständigen Fachleuten eröffnet, die das wussten und deshalb auch machten, lassen sich nämlich jederzeit selbst verbriefen. Sie lassen sich tranchieren, klonen, streuen, ohne dass noch ein Adressat zur Verantwortung zu ziehen wäre, der für Schuld und Schulden aufkäme. In Waren oder "Finanzprodukte" verwandelt, die immer neue Märkte und "Finanzprodukte" hervorbringen, vervielfachen sie sich dann ins Unabsehbare. Sie mutieren zu Kettenbriefen und treten Irrfahrten an, die das oiko-semiotische Ordo im Innersten bedrohen. Sie machen den Adressaten ebenso unkenntlich, wie sie die Zustellfristen der Schuld durcheinander bringen. Den Schriften scheint insofern eine Virtualität innezuwohnen, die nicht kalkulierbar ist. Überall, so diagnostiziert es Platon, der erste Analytiker dieser Kredit- und Finanzkrise, schweifen sie umher, ohne zu wissen, zu wem sie reden sollen und zu wem nicht. Umso strenger muss das postalische Reglement sein, um die Schriftsysteme transparent und kontrollierbar zu halten. Nur so lässt sich der Zerstreuung des lógos, den atemberaubenden Entwertungen und verrückten Finanzkrisen, die hier drohen, zuvorkommen. Nur so lassen sich die Terminierungen der Zeit sicherstellen, in denen sich "Zukunft" als kalkulierbares Termingeschäft projektieren und verfügen will. Im Bruch einer Order, die sich im symbolischen Universum der Schuld und ihrer Begleichung, ihres Fälligkeitsdatums verfügen wollte, könnte sich dagegen eine Zeitlichkeit, eine Räumlichkeit anmelden wollen, derer das väterliche Symbol nicht mächtig wird. Weshalb sie sich vorläufig oder bis auf weiteres auch nur den Verrücktheiten einer Mütterlichkeit zuschreiben lässt, die es sorgsam aus den Ordnungen von Zeit und Zeichen auszuschließen gilt.


Es genügt, ein Beispiel aus den Annalen dieser Postalik herauszugreifen, um zu wissen, worum es sich handelt. Im November 1837 schreibt der angehende Doktor der Jurisprudenz Karl Heinrich Marx einen Brief an den Vater, der vieles in einem ist: Rechenschaftslegung, Rechtfertigung ebenso wie Liebesbeweis, Erstattung einer Schuld wie inständige Bitte darum, im Zeichen dieser Schuld und ihrer Begleichung als rechtmäßiger Sohn anerkannt zu werden. Immerhin berichtet er von nicht weniger als seinen studentischen Irrungen und Wirrungen, die ihn auf Abwege geraten ließen. Die Mutter muss von all dem ja nichts wissen, wie der Autor des Briefes dem Vater nahe legt, weshalb er ihn auch bittet, ihr nicht alle Seiten seiner Letter zu zeigen. Keineswegs will er die Mutter nämlich in Unruhe versetzt wissen; alles bleibt zwischen Vater und Sohn auszuhandeln. Und ganz so, als sei selbst seine abschließende Versicherung noch nicht hinreichend, in der er seinem Wunsch Ausdruck verleiht, "dass ich selbst Dich an mein Herz pressen und mich ganz aussprechen kann" (6), ergänzt Marx sein Schreiben sodann um ein Postskriptum: "Verzeihe, teurer Vater, die unleserliche Schrift und den schlechten Stil; es ist beinahe 4 Uhr, die Kerze ist gänzlich abgebrannt und die Augen trüb; eine wahre Unruhe hat sich meiner bemeistert, ich werde nicht eher die aufgeregten Gespenster besänftigen können, bis ich in Eurer lieben Nähe bin." (7)


Ich habe mich oft gefragt, warum dieser Brief bei Jacques Derrida, in Marx' Gespenster, keine Aufnahme gefunden hat. Versammelt er doch alles, wovon in Derridas Studie die Rede ist: den abwesenden Vater nicht anders als die Gespenster, die sein Name umgehen lässt; eine nächtliche Schreibszene nicht anders als die Unleserlichkeit der Schrift und den schlechten Stil, der den Duktus des Gedankens furcht; die Unruhe der Mutter, die es zu vermeiden gilt, und die eigene, selbst mütterlich anmutende des angehenden Doktors, der sie umso weniger unterdrücken kann und deshalb an jene Unmöglichkeit einer väterlichen Nähe adressiert, die allein die Gespenster wenn nicht vertreiben, so doch wenigstens besänftigen könnte. Was nämlich hieße es, sich "ganz auszusprechen"? Was erlaubt der väterlichen Nähe, die aufgeregten Gespenster zu besänftigen? Welche einzigartige Präsenz könnte sie gewähren, um den Schreibenden - an der Mutter vorbei, weil ihren unruhigen Platz einnehmend - von der Unruhe zu befreien, die ihn bemeistert? Keineswegs wird man sich damit zufrieden geben können, hier so etwas wie eine Psychoanalyse des künftigen Gelehrten Dr. Marx in Gang zu setzen. Denn tatsächlich öffnet der Brief des jungen Studenten die Akten eines Prozesses, der älter ist als die Kritik der politischen Ökonomie; älter auch als die Ökonomien und Topiken, in denen Freud die Ordnungen des Unbewussten aufzeichnen wird. Umgekehrt werden Marx wie Freud in diesem Prozess vielmehr selbst ihren Auftritt gehabt haben.


Die Schreibszene nämlich, in der Marx die Nähe des abwesenden Vaters beschwört, versetzt mitten in eine Ordnung, durch die hindurch der okzidentale lógos seiner selbst inne zu werden sucht. Bekanntlich handelt es sich um jene Szene, in der Platon auf den "Vater des lógos" zu sprechen kommt, mit dem in Korrespondenz steht, wer das Wort ergreift, und in der folglich die Maxime ausgegeben werden wird, sich der Schriften umso kalkulierter zu enthalten. Denn wie mit der Malerei, so verhält es sich auch mit ihnen: "Du könntest glauben", so die berühmte Stelle im Phaidros, "sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so bezeichnen sie doch nur stets ein und dasselbe. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen imstande." (8) Bekanntlich hat Jacques Derrida dieser familialen Struktur eine eingehende Untersuchung gewidmet, indem er Platons Pharmazie öffnete (9). Die hält, wie man seither weiß, allerhand Hilfsmittel und Artefakte vorrätig, derer sich der lógos versichert, um lógos sein und sich durch die Schriften hindurch ganz aussprechen zu können. Allerdings muss diese Pharmazie dabei die ebenso hilfreichen wie gefährlichen Techniken eines phármakon, einer Arznei wie eines Giftes, verordnen und insofern die Unentscheidbarkeit selbst ins Spiel bringen. Ganz so, wie es sich auch im Wirtschaftsteil der Zeitungen ausnimmt: erweist sich die Arznei des Kredits, die das Zirkulieren von Ware und Kapital stützen und Stockungen des Kreislaufs vermeiden helfen sollte, doch längst als Gift, das umgekehrt Abstürze und katastrophische Unterbrechungen auslöst; wovon die üblich gewordene Rede von "toxischen Papieren" ja hinreichend Zeugnis ablegt. Und zweifellos wäre, um die Techniken und unentscheidbaren Wirkungen dieses phármakon eingehender in Augenschein zu nehmen, sehr viel mehr nötig als ein kurzer Rekurs auf Derrida, wie er hier möglich ist; zumal er sich im vorliegenden Zusammenhang ja - durch die platonischen Pharmazie hindurch - einer Inventur der Marx'schen zuzuwenden sucht.

 

II
An dieser Stelle muss deshalb die Erinnerung daran genügen, wie tief die Strukturen des platonischen lógos in Anordnungen einer familialen Genealogie eingelassen sind. "Der lógos", so schreibt Derrida, denn so entnimmt er es dem platonischen Text, "ist ein Sohn, also, und einer, der ohne die Gegenwart, ohne den gegenwärtigen Beistand seines Vaters zugrunde ginge. Seines Vaters, welcher (ver-)antwortet. Der für ihn antwortet und für ihn die Verantwortung übernimmt, für ihn bürgt. Ohne seinen Vater ist er freilich nichts mehr als eine Schrift." (10) Und damit einer "verrückten Form" zum Verwechseln ähnlich, die einer gewissen Mütterlichkeit entspringt. In jedem Fall sind die Prozessakten des Familiengerichts damit geöffnet. Wer nämlich spricht? Wer antwortet? Wer übernimmt die Verantwortung für die umlaufenden Schriftzeichen, wer steht für sie ein, wer bürgt für sie? An wen müssen sie adressiert werden, um verantwortliche Schriftzeichen zu sein, welche Nähe müssen sie aufsuchen, um Gewähr zu bieten, das Schuldige zu erstatten und sich ganz aussprechen zu können? Oder, anders gefragt: wer überwacht die Bahnungen einer Postalik, ohne die das Credo eines Kredits platzen und in die Verrücktheiten einer irregulär gewordenen Matrix abstürzen müsste?


Die Schrift nämlich, so will es der platonische Gestus, indiziert allemal die Abwesenheit des Vaters. Derrida verweist auf eine ganze Reihe von Modalitäten, in denen sich diese Abwesenheit zuspielen kann. Man kann vom Vater getrennt sein; man kann ihn verloren haben aufgrund eines natürlichen oder gewaltsamen Todes; nicht zuletzt aber kann er Opfer eines Vatermords geworden sein. Und tatsächlich wird sich die platonische Anklage auf diesen Punkt zusammenziehen. Indem die Schrift den abwesenden Vater substituiert, bejaht und affirmiert sie bereits dessen Abwesenheit. Stets bewegt sie sich deshalb an der Schwelle oder in der Nähe des Vater-Mords, den sie in Szene setzt, indem sie Schrift ist. Und darin besteht nicht nur die Gefahr, mit der sie den lógos bedroht. Darin zeichnet sich ebenso vor, worin der verantwortliche, lebendige lógos bestehen müsste: "Der lebendige lógos," so Derrida, denn so entnimmt er es der Gebrauchsanleitung der platonischen Pharmazie, "er erkennt seine Schuld an, lebt von dieser Anerkennung und verbietet sich den Vatermord, hält sich für fähig, sich diesen zu verbieten." (11)


In gewisser Weise sind Anerkennung und Schuld vom Vater also nicht zu trennen. Und nicht zufällig erinnert Derrida daran, dass das griechische tókos - die Hervorbringung oder das Hervorgebrachte, die Geburt und das Kind, die menschliche oder tierische Leibesfrucht - ebenso auch die Zinsen oder den Gewinn eines Kapitals bezeichnet. Jeder seiner Abkömmlinge entspricht einem Einkommen, das dem Vater von Rechts wegen zusteht. In ihnen schreibt sich eine Rückkehr zum Ursprung vor, die einer Aneignung oder Wiederaneignung und damit einem Einkommen oder Gewinn entspricht. Deshalb können sich um den Platz des Vaters auch alle Bestimmungen gruppieren, die den lógos als Wort und als Sammlung auszeichnen werden. Er lebt von der Anerkennung einer Schuld, die sich verbriefte und deshalb auf ihren Ursprung zurückkommt, um sich der Hilfe und des Beistands ihres Vaters zu versichern, sich ganz aussprechen und so die Schuld zu begleichen.


Womit aber, zweitens, ebenso festgestellt wäre, dass der lógos keineswegs der Vater "ist". In dessen Nähe situiert, hält er gleichwohl irreduziblen Abstand zu ihm ein. "Das Gute", so resümiert Derrida, "(der Vater, die Sonne, das Kapital) ist also die verborgene, illuminierende und blendende Quelle des lógos." (12)Nicht schon im lógos also ist das Gesetz zu entziffern, sondern in dem, was im lógos ebenso sichtbar wie unsichtbar bleibt, indem es ihn seinerseits blendet. Den lógos zeichnet lediglich die Nähe aus, die er zu dieser Quelle unterhält, ohne deshalb mit ihr eins zu sein. Selbst ist er nur eine Art Abglanz, Hilfsmittel und insofern seinerseits phármakon. Darin allerdings erweist er sich zugleich als Einfallstor der Schrift, nimmt er an diesem Punkt selbst Züge einer Schrift an. Die "andere Rede", jene des lógos nämlich, von der Platon sagt, sie sei die "ebenbürtige Schwester" der ersten, erscheint nämlich nur insofern als besser und kräftiger, als sie "mit Einsicht geschrieben wird in des Lernenden Seele, wohl imstande, sich selbst zu helfen, und wohl wissend zu reden und zu schweigen, gegen wen sie beides soll." (13) Und folgerichtig stimmt Sokrates dem Phaidros zu, als dieser zusammenfasst: "Du meinst die lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden, von der man die geschriebene mit Recht wie ein Schattenbild ansehen könnte." (14)


Das Original und sein Schatten also; wobei das Original selbst nur eine Art Schatten ist. Insofern hätte man es schon nicht mehr, wie Derrida resümiert, mit einer Opposition von gesprochener und geschriebener Rede, von phoné und grámma zu tun. Wo sich die lebendige Rede mit Einsicht in die Seele einschreibt, ist Platon vielmehr erstmals genötigt, "eine andere Art von Schrift ins Auge zu fassen: nicht nur als eine wissende, lebendige und beseelte Rede, sondern als eine Einschreibung der Wahrheit in der Seele." (15) Zweierlei Schrift also: der Abgrund, der sich zunächst an der verantwortlichen mündlichen Rede einerseits, der verantwortungslosen, toten, verderblichen und vatermörderischen Schrift andererseits aufgetan hatte, öffnet sich nunmehr im Innern des grámma. Das gesprochene Wort selbst ist eine Inschrift. Um der Bedrohungen Herr zu werden, die daraus entstehen, wird die Pharmazie freilich umso sorgfältiger sortiert werden müssen.


Welche Schrift nämlich, welche Wahrheit und welche Seele? Marx jedenfalls weiß, nicht anders als Platon, um die Gefahren, die dem lógos aus Schriften entstehen, die sich von ihrer lebendigen Quelle abgekoppelt haben. Was er den "Fetisch" nennt, besteht in der gespenstischen Art und Weise, in der die Warenwelt mit eigenem Leben begabt zu sein scheint. Und wenn das Zinskapital die "Mutter aller verrückten Formen" ist, so erklärt Marx, dann weil in ihm die Vorstellung vom Kapitalfetisch vollendet ist. Als Geld fixiert, erscheint es als Kraft, durch eine "eingeborne geheime Qualität, als reiner Automat" Mehrwert zu erzeugen. Jeglicher Kontrolle entzogen, muss diesem Kapital deshalb umso gebieterischer das Gesetz des abwesenden, wiederkehrenden oder sich wiederholenden Vaters in Erinnerung gerufen werden: "Das Produkt vergangner Arbeit", so macht Marx, der Ankläger, geltend, "die vergangne Arbeit selbst, ist hier an und für sich geschwängert mit einem Stück gegenwärtiger oder zukünftiger lebendiger Mehrarbeit. Man weiß dagegen, dass in der Tat die Erhaltung, und insoweit auch die Reproduktion des Werts der Produkte vergangner Arbeit nur das Resultat ihres Kontakts mit der lebendigen Arbeit ist..." (16)


Der Prozess, der über den platonischen Pharmazien eröffnet wurde, tritt damit in ein neues Stadium. Ohne Kontakt mit der lebendigen Arbeit, ohne von ihr geschwängert zu werden, sei's in der Vergangenheit, sei's in Zukunft, sind die umlaufenden Werte nur tote Schrift, Schatten eines Schattens, Simulakren eines verrückt gewordenen Automaten. Ohne sich an den Vater zu adressieren, der sie hervorbrachte, ohne auf ihn zurückzukommen, ohne Kontakt mit ihm, ohne von ihm immer neu geschwängert zu werden, bleiben die Schuldverschreibungen monströse Gespenster. Sie irren umher, ohne zu wissen, an wen sie sich wenden sollen. Gegenwärtig oder zukünftig, jetzt oder später, immer neu oder in Skansionen einer Wiederholung bleiben sie auf die Hilfe oder den Beistand einer Instanz angewiesen, der sie ihre Herkunft verdanken und schulden. Nicht anders als die "lebendige Rede" in der platonischen Schriftökonomie wird die politische Pharmazie des Dr. Marx so um die gebieterische Instanz einer "lebendigen Arbeit" angeordnet. Wo beispielsweise Geldkapital vorgeschossen wird, so erinnert uns Marx, der Ankläger, da existiert es keineswegs schon "als verwertetes oder mit Mehrwert geschwängertes Kapital, als Kapitalverhältnis." (17) Ohne Intermissionen einer phallischen Instanz kommt dieses Verhältnis also nicht aus. Überall hält die pharmazeutische Kunst zu einer kalkulierten Verausgabung des väterlichen Samens an. Ein spermatologisches Kalkül der Fruchtbarkeit, ließe sich sagen, das dem Regime eines sich vermehrenden und deshalb zirkulierenden Werts untersteht; tatsächlich verhält es schon die platonische Engführung von Schrift und Samen, wie Derrida schreibt, zur "Bevorzugung einer Schrift gegenüber einer anderen, einer fruchtbaren Spur gegenüber einer sterilen Spur, eines zeugungsfähigen, weil im Drinnen abgelegten Samens gegenüber einem im Draußen in reinem Verlust: im Risiko der Dissemination, vergeudeten Samen." (18)


Die fruchtbare Spur nämlich verbleibt im Drinnen, was immer bedeutet, die zirkuläre Bewegung einer Wiederaneignung zu vollziehen. So sehr sie sich dem Draußen exponiert, so sehr muss sie davor geschützt bleiben, sich an dieses Draußen zu verlieren. Der Same muss Bahnen einhalten, die der lógos ihm anweist. Er ist also fruchtbar nur insofern, als sich der lógos seiner bemächtigt hat; und dies ruft nunmehr einen Dissens auf. "Der Samen", schreibt Derrida, "muss sich also dem lógos unterwerfen. Und sich somit Gewalt antun, denn das natürliche Bestreben des Spermas widersetzt sich dem Gesetz des lógos…" (19) Deshalb scheint sich hier auch widerrufen zu wollen, was den lógos zuvor als Figur einer Nähe zum Vater bestimmt hatte. Nunmehr tritt dieser lógos selbst ein Regime an, das den Platz des Vaters aus einem spermatologischen Kalkül der Fruchtbarkeit erst hervorgehen lässt. Der Zerstreuung, dieser Gefahr eines äußersten, nicht ökonomisierbaren Außen, muss bereits im Innen mit Gewalt begegnet worden sein. Das "lebendige Wort" des platonischen Vaters wie auch die "lebendige Arbeit" bei Marx sind gleichermaßen Resultat einer Unterwerfung, die der Dissemination des Semens Herr werden soll. Der Samen, das Semen nämlich "ist" die Zerstreuung. Und insofern sie unterdrückt wird, errichtet sich das väterliche Gesetz auf einem Vergessen, das tiefer reicht als alles, was sich im Bann väterlicher Zeugungskraft in Erinnerung rufen, vom spermatologischen Kalkül als Gewinn aneignen ließe. Innen und Außen erweisen sich insofern als unentscheidbar miteinander verkreuzt; und um das niederschreiben zu können, muss Marx nicht anders als Platon den reinen Verlust, das äußerste Risiko einer Dissemination immer schon ins Spiel gebracht haben. Was sich schlagend in der Überproduktionskrise manifestiert, in der Antwort und Verantwortung ausbleiben; wie Marx, der Ankläger, geltend macht, ereignet sie sich als "die plötzliche Erinnerung aller dieser notwendigen Momente der auf das Kapital gegründeten Produktion: daher allgemeine Entwertung infolge des Vergessens derselben." (20)


Eine Erinnerung, die das Außen einer nicht-ökonomisierbare Schrift also im Innern der väterlichen Instanz virulent werden lässt, um diese Instanz selbst zu entwerten: das Kapital also, die blendende Sonne, die Quelle des lógos. Sie erfasst nicht nur die umlaufenden Schriftzeichen, sondern das gesamte Gefüge, das sie emittierte. Deshalb kann sich diese Anamnese auch nicht in den Binnenbezirken einer väterlichen Ökonomie zutragen, die für das Credo kursierender Werte einzustehen versprach. Indem Dr.Marx in Erinnerung ruft, was sich in der auf das Kapital gegründete Produktion fundamental vergaß, um sich in der Schrift zuzustellen, führt er das grámma also wie ein gefährliches phármakon ein. Nicht etwa spielt diese Adresse nur mit dem Vatermord; sie führt ihn aus. Die Erinnerung und das Vergessen, die Anamnese und der plötzliche Schlag einer Entwertung, in dem sie sich ereignet: man weiß um den strategischen Wert, den diese Frage schon in den Rezepturen der platonischen Pharmazie besaß. Gewichtige Probleme hatten sich hier aufgedrängt: wird das phármakon der Schrift die Erinnerung etwa möglich machen? Wird sie die Seelen der Lebenden nicht vielmehr Vergessen eingeben, indem sie die Innerlichkeit des Sich-selbst-Erinnerns in der Äußerlichkeit der Schrift verausgabt und jedes Kapital heillos zerstreut? Marx jedenfalls bedient sich der Schrift wie eines Gifts, um in Implosionen einer Entwertung daran zu erinnern, dass es mit dem Kapital nichts ist. Niemand weiß besser als er, wie sehr die Krise Exzessen einer Erinnerung gehorcht, die sich selbst in uneinlösbaren Schuldverschreibungen verliert und einem reinen Verlust gleichkommt. Erst so aber wird das Kapital seiner selbst inne, er-innert es sich im Wortsinn; um den Preis indes, einer schlagartigen Entwertung ausgesetzt zu werden, die es seinerseits annihiliert.

 

III
Wovon spricht diese Adresse an den Vater deshalb, wenn nicht davon, dass es mit ihm nichts ist? Dass er sich den Platz des Vaters widerrechtlich angeeignet hatte, um ihn für ein trügerisches Spiel zu missbrauchen? Dass die Simulakren seiner Fruchtbarkeit nur aus einer Usurpation hervorgegangen waren? Und hatte nicht schon die Monstrosität der verrückten Formen auf tief greifende Störungen der patrilinearen Genealogie erwiesen, die dies anzeigten? Blendend traten sie schon dort in Erscheinung, wo der "Wert" die Gestalt des Geldkapitals annimmt. Es unterscheidet sich, wie Marx weiß, "als ursprünglicher Wert von sich selbst als Mehrwert, als Gott Vater von sich selbst als Gott Sohn, und beide sind vom selben Alter und bilden in der Tat nur eine Person, denn […] sobald der Sohn und durch den Sohn der Vater erzeugt, verschwindet ihr Unterschied wieder und sind beide Eins..." (21) Phantasmatische Junggesellenschöpfung, ist dieser Widersinn den verrückten Formen allerdings zum Verwechseln ähnlich, wie sie der mütterliche Automat freisetzt.

Umso weniger kann deshalb auf phallische Intermissionen gesetzt werden. Tatsächlich gibt es sie nur unter Bedingungen des Kapitalverhältnisses, in Ordnungen einer Spermatologie dieses Verhältnisses, eines lógos also, der sich des Semens bemächtigte und dessen Dissemination gewaltsam still stellen sollte. Die "Arbeit" jedenfalls, die aus dieser Usurpation hervorgeht und dem zirkulierenden Wert ein "Mehr" injiziert, ist insofern kein Erstes. Was sich auf Schritt und Tritt bestätigt, wo Marx diese "Arbeit" begrifflich zu fassen sucht. Denn wie steht es um die Sinnlichkeit, die Gegenständlichkeit und Wirklichkeit, an die er appelliert, um von dieser "Arbeit" sprechen zu können? Diese "Gegenständlichkeit", mit denen die "Arbeit" den Phantasmagorien, den Perversionen und Verrücktheiten Paroli bieten soll, schreibt jedenfalls nicht als einfache Gegebenheit, vielmehr immer neu als Einschnitt einer Differenz: "Denn sobald es Gegenstände außer mir gibt", heißt es bereits in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, "sobald ich nicht allein bin, bin ich ein andres, eine andre Wirklichkeit als der Gegenstand außer mir. Für diesen 3ten Gegenstand bin ich also eine andre Wirklichkeit als er, d.h. sein Gegenstand. Ein Wesen, welches nicht Gegenstand eines andren Wesens ist, unterstellt also, dass kein gegenständliches Wesen existiert." (22) Um mich gegenständlich zu mir und anderen verhalten zu können, muss sich also ein drittes "Wesen" bereits zu mir verhalten haben. "Gegenständlichkeit" kommt mir, immer unzeitgemäß, von einem anderen zu, wird zugestellt, um mich als gegenständlich zuallererst empfangen zu lassen. Der Gegenstand spielt sich aus Differenzen zu, die ihrerseits eine ihr vorgängige Differenz wiederholen.

Ganz so wie in einer sich beständig entziehenden, weil differierenden "Matrix", ließe sich vielleicht hinzusetzen: um eine winzige, aber alles entscheidende Nuance in sich verschoben, einer patrilinearen Logik entzogen, scheint sich die Frage nach einer bestimmten "Mütterlichkeit" zu wiederholen. Die Gegenständlichkeit der Arbeit nämlich empfängt sich ihrerseits, stellt sich zu. Indem sie das Sinnliche wie das Intelligible eröffnet, hat sie sich als Spur aus beiden zugleich zurückgezogen, um den Endlichen ihre Endlichkeit zu eröffnen. Und darin ließe sich ein Begriff des Singulären entziffern, den die Tradition in Begriffen eines "Materialismus" beständig suchte. Denn, wie Elisabeth Weber sagt: "Die Verwerfung der Endlichkeit (eine Verwerfung, die sich in einer Mythifizierung des Todes ausdrücken kann) verneint die Differenz, die jedes mit Sprache begabte Wesen durchquert: eine infinitesimale und unendliche Öffnung und Alteration. Die Verfolgung, diese absolute Negierung des anderen und der nicht identfizierbaren Differenz, ist untrennbar von der Verneinung der Andersheit im Herzen des ‚Selben', einer Andersheit, deren Spuren schlechthin die Sterblichkeit und die geschlechtliche Differenz sind." (23) Genau besehen, könnte deshalb die Rede von einem "dritten Wesen" oder einem "dritten Geschlecht", das Platon zu bedenken scheint, selbst noch zu weitgehende Zugeständnisse machen. Dem Sinnlichen ebenso vorausgehend wie dem Intelligiblen, kann dieses "Wesen" nämlich weder einfach dem Sinnlichen noch dem Intelligiblen zugerechnet werden; und dies macht den Begriff dieses "Wesens" in sich selbst fragwürdig. Jeder "Wesenhaftigkeit" entzogen, müsste es viel eher als Einschnitt gedacht werden, über den keine Wesenslogik Macht hat. Weshalb Derrida schreiben kann, das phármakon sei "die vorgängige Mitte, in der sich die Differenzierung im allgemeinen und die Opposition zwischen dem eidos und seinem anderen vollzieht; diese Mitte ist analog zu der, die später, nach der philosophischen Entscheidung und ihr gemäß, der transzendentalen Einbildungskraft vorbehalten sein wird, dieser ‚verborgenen Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele', die weder einfach dem Sinnlichen noch dem Übersinnlichen angehört, weder der Passivität noch der Aktivität." (24)

Welchen Wert also sollte der Topos der "Arbeit" in diesen Oiko-Semiosen noch annehmen können, die diesen Oppositionen von Aktivität und Passivität entgehen? Wie könnte die Entwertung der Phallogo-Zentrismen vor einem Wert halt machen, der sich im Grund seiner selbst unablässig teilt und zerstreut? Und bliebe noch von Pettys Diktum, das Marx nicht müde wird, immer neu zu zitieren: die Arbeit sei der Vater, die Erde die Mutter des Reichtums? Jeder Platz, der einem kommenden Vater zugewiesen wäre, erweist sich hier von einem anderen bereits geschnitten, indem er ihn geteilt hat, in ihm differiert und sich wiederholt. Die "vorgängige Mitte", von der Derrida spricht, in der sich die "Differenzierung im allgemeinen" vollzieht, schreibt sich dieser Zuteilung lediglich als Verfehlung ein, um sie an einen anderen Platz zu verweisen, noch bevor sie sesshaft werden könnte. Weshalb Christoph Tholen bemerken kann: "Dieses Gesetz des Platzverweises ‚widerlegt' die Unterstellung einer wie immer theologisch verbürgten absoluten Vaterschaft von Gesetzen. Gott als Platzhalter zu fingieren, der den Mangel nicht kennt, sondern für dessen eschatologische Beseitigung einsteht und der im onto-theologischen Diskurs unter dem Namen des Vaters angerufen wird, ist notwendig imaginär-abschließende Verkennung, d.h. Abdankung der Frage nach dem Gesetz." Woraus folgt, "dass jeder politische oder theologische Messianismus der phantasmatischen Funktion gehorcht, das unabschließbare Loch der Wiederholung - den Verlust als ein Mehr an und als Lust - zu stopfen." (25) Und ist es nicht diese Mehrlust eines Verlusts, die den vatermörderischen Ankläger Marx an den Vater wird schreiben lassen?


Tatsächlich, nie war bei ihm von anderem die Rede, als er seinen Brief nach Trier aufsetzte. Die Unruhe der Mutter umgehend, wird seine Schrift von dieser Unruhe immer schon durchquert. Im übrigen fehlte die Mutter, woran Derrida erinnert, bereits in der platonischen Familienszene nur scheinbar: "Wenn man richtig nach ihr sucht - wie etwa in jenen Suchbildrätseln - , so wird man vielleicht ihre unstete Gestalt, verkehrt herum gezeichnet, im Laubwerk erkennen können, in der Tiefe eines Gartens, eis Adonidos kepous. In den Gärten des Adonis." (26) - Einst nämlich hatte Aphrodite die Königstochter Myrrha mit Liebe zu ihrem Vater Cinyras gestraft. Die Tochter schlich sich, nachdem ihre Amme den Vater betrunken gemacht hatte, in dessen Schlafgemach und wurde von ihm schwanger. Als ihr Vater entdeckte, wer seine Geliebte gewesen war, zog er das Schwert gegen sie. In diesem Augenblick verwandelte Aphrodite sie in einen Myrrhenbaum, und als das väterliche Schwert fiel, entsprang dem Spalt, den es hinterließ, Adonis. Sofort verfiel Aphrodite dessen Schönheit, doch auch Persephone erhob Ansprüche auf den schönen Jüngling. Sie hinterbrachte Ares, dem Kriegsgott, dass Aphrodite ihn mit einem Sterblichen betrog, der zudem weibisch sei. Der, rasend vor Eifersucht, tötete den jagenden Adonis in Gestalt eines Ebers. Aus dem Blut des Gemordeten ließ Aphrodite die Anemonen wachsen (27). Adonis, diese verrückte Form unfruchtbarer väterlicher Verausgabung, diesen Weichling mit verschwenderischem Samen, den Bastard und unreifen Abgott der Frauen, dieses obszöne Gegenbild der Ehe ehren die Frauen seither in den Adonis-Gärten, in die sich der platonische Dialektiker nur des unernsten Spiels wegen verirren darf.


Welche Zeitlichkeit also dürfte sich hier anmelden? Welche Temporalisierung unterbricht jene Logik des Kredits, der Ökonomie von Schuldverschreibungen und ihrer Gewalten einer Adressierung? Und welche Gespenster sind es, die den angehenden Doktor deshalb quälen? Lassen sie sich beim Namen nennen? Wie anders könnte die Unruhe, die ihn bemeistert, sich ganz aussprechen, ganz zu Wort kommen? Und wie die Schuld beglichen werden, die sich in all den Texten verbriefte, welche geschrieben wurden, wie könnten die Schulden abgetragen werden, die sich ins Gespenstische akkumulierten, indem sie sich verbrieften? Und doch oder umso mehr: müsste ihre Re-Adressierung an ein väterliches Gesetz der Arbeit zugleich nicht widerrufen, was der spätere Gelehrte als "Revolution" zu adressieren sucht? Verlangt die Akkumulation fiktiven oder imaginären Kapitals, das die Kredit- und Finanzmärkte ebenso mit beispielloser Gewalt verwüstet wie die Realität einer Ökonomie, etwa nicht selbst immer neu nach der Erfindung jener "lebendigen Arbeit" als ihres "anderen Vaters"? Nach einer Instanz also, die den toten Schriften erneut Mehrwert injizieren soll? Nach einer verschwiegenen Differenz, deren Ausbeutung darin produktiv wäre, die verrückt gewordene Mutter zu schwängern, ihre Hysterien zu ordnen und wieder um ein väterliches Zentrum zu gruppieren? Ruft der Bankrott der Märkte also nicht selbst nach einer Spermatologie, die den hysterischen Ausfällen der Zeit, dieser "Mutter aller Verrücktheiten" Vernunft beibringen soll, indem sie die Schriften schwängert? Erweist sich deshalb, mit Marx, gegen ihn oder durch seine Schriften hindurch, die Feier der Arbeit oder die Onto-Theologie des Vaters nicht selbst noch als eine Erfindung des Kapitals sui generis, gut genug, die Proletarier an die Kandare zu nehmen, ihnen die Lasten des Zusammenbruchs nämlich aufzubürden, die Arbeit mit göttlicher Würde auszustatten, um die Ausbeutung wie das Elend der Arbeitenden ein weiteres Mal zu maximieren?


Oder wie ließe sich anders ein "Materialismus des Unkörperlichen" denken, dessen différance sich unter vielen Namen anschreiben lässt, und sei es dem des "Kommunismus"? Wie ließe er sich aufrufen und präsent machen? Denn welche Präsenz und welche Wirklichkeit eines "Werks" wären das, bliebe dieser Materialismus, weil unkörperlich und differentiell, doch selbst von Gespenstern heimgesucht, sobald er "Werk" werden will? Lässt sich auf den Kommunismus also tatsächlich - spekulieren? Lässt sich "mit ihm" gar spekulieren? Und was verbindet noch dieses speculum mit der Spektralität der Gespenster, die im Zeichen des Vaters immer neu umgehen? Wie nämlich wirkt das Unentscheidbare einer Pharmazie auf diesen Vater ein, von der Derrida sagen kann: "Das phármakon ist also ‚ambivalent',weil es genau die Mitte bildet, in der die Gegensätze sich entgegensetzen können, die Bewegung und das Spiel, worin sie aufeinander bezogen, ineinander verkehrt und verwandelt werden […] Das phármakon ist die Bewegung, der Ort und das Spiel (die Hervorbringung der) Differenz. Es ist die différance der Differenz." (28)


Mittlerweile jedoch ist die Nacht zu weit fortgeschritten. Soeben hat der angehende Doktor der Jurisprudenz Karl Heinrich Marx sein Postskriptum abgeschlossen. Ein Blick auf die Uhr, es ist 4 Uhr morgens, die Augen sind trübe, die Kerze flackert, und die quälenden Gespenster, die ihn bemeistern, wollen umso weniger weichen. Allemal gehen sie in den Schriften um, die sich an den Vater adressieren. Sich ganz aussprechen zu können, hat er gerade geschrieben; doch nichts wird diesem "vollen Sprechen" Aussicht auf Erfüllung bieten. Noch das Sprechen teilt sich in einer Schrift, ist Signatur eines irreduziblen Aufschubs, eines Vatermords, der sich in Phantasmen widerrufen will, ohne sich widerrufen zu lassen. Denn das Außen "ist" das Innen, und immer trifft die Erinnerung dieses Innen deshalb wie ein Schlag, unter dem es sich zerstreut. Keine Gegenwart eines Vaters deshalb, die sich nicht als Abwesenheit eines Toten wiederholen und den Vater disseminieren würde. Und mit ihm die "Muter aller verrückten Formen". Längst hat der junge Student der Jurisprudenz mittlerweile selbst die Physiognomie des späteren Gelehrten, die vatermörderischen Züge Platons angenommen. Und seine Schreibszene klingt aus, wie Derrida über den Augenblick berichtet, in dem dieser die Pharmazie hatte schließen wollen:


"Die Nacht geht vorbei. Am Morgen vernimmt man, wie an die Tür geschlagen wird. Sie scheinen von draußen zu kommen, dieses Mal, die Schläge…

Zwei Schläge… vier…

Doch vielleicht ist es ein Rest, ein Traum, ein Stück Traum, ein Echo der Nacht… dieses andere Theater, diese Schläge von draußen…" (29)

 

 

Anmerkungen

(1) Marx: Das Kapital, Bd.III, MEW 25, Berlin: Dietz 1976, S.483.
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(2) ebd., S.557f.
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(3) Marx, Kapital, Bd.I, Berlin: Dietz 1976, S.58.
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(4) Marx, Kapital, Bd.III, ebd., S.784.
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(5) Hans-Dieter Bahr: Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik. Leipzig: Reclam 1994, S.235.
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(6) Karl Marx: Brief an den Vater, MEW Ergänzungsband Schriften bis 1844 Erster Teil, Berlin: Dietz 1974, S.11.
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(7) ebd., S.11f.
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(8) Platon: Phaidros, 275 d-e, Sämtliche Werke Band IV, Hamburg: Rowohlt 1983, S.56.
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(9) vgl. Jacques Derrida: Platons Pharmazie, in: ders.: Dissemination, Wien: Passagen 1989, S.69ff.
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(10) ebd., S.85.
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(11) ebd., S.86.
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(12) ebd., S.92.
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(13) Platon, ebd., 276a, S.56.
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(14) ebd.
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(15) Derrida, ebd., S.167.
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(16) Marx: Das Kapital, Bd.III, ebd., S.412.
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(17) Marx: Das Kapital, Bd.II, MEW 24, Berlin: Dietz 1976, S.92.
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(18) Derrida, ebd., S.168. - vgl. Platon, ebd., 276b f., S.56f.
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(19) Derrida, ebd., S.173.
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(20) Marx: Grundrisse, MEW 42, Berlin: Dietz 1977, S.329.
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(21) Marx: Das Kapital, Bd.I, ebd., S.169f.
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(22) Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW Bd.40, Berlin: Dietz 1976, S.578f.
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(23) Elisabeth Weber: Verfolgung und Trauma, Wien: Passagen 1990, S.211.
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(24) Derrida, ebd., S.141f.
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(25) Georg Christoph Tholen: Vom Gesetz des Symbolischen, in: Armin Adam / Martin Stingelin: Übertragung und Gesetz, Berlin: Akademie Verlag 1995, S.254.
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(26) Derrida, ebd., S.161.
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(27) vgl. Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie, Hamburg: Rowohlt 1992, S.58f.
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(28) Derrida, ebd., S.143.
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(29) ebd., S.190.
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