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Hans-Joachim Lenger

Geistesgegenwart
Zum Baseler Abschiedssymposion für Georg Christoph Tholen (13.10.2012)

 

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, lieber Christoph,

der Titel meiner Anmerkungen – „Geistesgegenwart“ – könnte gravierende Fragen heraufbeschwören. Anlass dazu böte sich zumindest reichlich. Die Frage nach einem „Geist der Gegenwart“ etwa würde ökonomische, technologische, mediale, soziale oder militärische Probleme aufwerfen, von denen wir ja nicht nur umstellt, sondern bis in Körperzustände und Begriffsprägungen hinein durchsetzt sind. Die nach einer „Gegenwart des Geistes“ könnte die Heimsuchungen durch eine Geistlichkeit zu akzentuieren suchen, die sich in den Infamien theologischer Derivate formiert und dabei mit technologischen und militärischen Mächten bewaffnet, die sich in Serien von Terrorismen und irregulären Kriegen entladen. Der Begriff der „Gegenwart“ könnte dazu herausfordern, das Privileg zu befragen, das die Fiktion einer ungeteilten Präsenz im okzidentalen Denken genießt. Und der Problemtitel des „Geistes“ schließlich würde in Erinnerung rufen, was wir über die Erscheinungen des Geistes, über die Geistererscheinungen oder über die Wiederkehr von Gespenstern lernen konnten, die diese Gegenwart heimsuchen und in ihr umgehen – nicht zuletzt, weil die Fiktion ungeteilter Präsenz unablässige Kaskaden einer Schuld oder vielfache Ökonomien einer Verschuldung freisetzt, derer ein Denken der Präsenz nicht Herr wird. „Geistesgegenwart“ also.

Nun ist mein Anlass glücklicherweise viel bescheidener oder vordergründiger, als diese Stichworte nahelegen; außerdem liegt er etwas zurück. 1993, vor annähernd zwanzig Jahren, führten Christoph Tholen und ich unter dem Eindruck des Todes Ulrich Sonnemanns ein Gespräch, das wenige Wochen später unter der Überschrift Geistesgegenwart, statt eines Nachrufs, in der Zeitschrift Spuren erschien. Ich hatte Christoph Tholen nach dem „Esprit“ gefragt, der Ulrich Sonnemanns Lehre, seine publizistische und politische Wirkung auszeichnete, und ebenso nach der Bedeutung, die dieser „Esprit“ für die großen Tage der Universität Kassel gehabt hat: für die Seminare und Projekte, für die Zeitschrift Fragmente und die wegweisenden Symposien, die in diesem universitären Milieu stattfinden konnten und dann in vielen Buchveröffentlichungen ihren Niederschlag fanden. Tholen antwortete, und ich zitiere etwas ausführlicher: „Vielleicht lässt sich Esprit am ehesten mit Geistesgegenwart übersetzen. Mein erstes Seminar mit Sonnemann – noch in Bremen – war eines zum Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari, also zu einem Buch, das damals im deutschen Feuilleton in seiner experimentellen und poetischen Dimension fast völlig verkannt worden ist... (...) Weil das Denken der Differenz – d.h. eine behutsame Rückkehr zu Freud, Heidegger, Nietzsche usw. – hierzulande aus Gründen einer seltsamen Projektion eigener Vorlieben für’s Irrationale und ‚Tiefe’ eher marginal blieb. Ulrich Sonnemann hingegen war jener ‚Kritische Theoretiker’, der – offener noch als Adorno – versuchte, im Sinne des Esprit, der Geistesgegenwart, das Philosophische und Politische je neu zu konstellieren. Es ging ihm um die Offenheit eines nicht-identischen Denkens, das an keiner Stelle dogmatisch an den eigenen Theorie-Gebäuden festhält.“ Und Tholen ergänzte: „In gewisser Hinsicht hat er also vorweggenommen, was uns später erst in unserer Auseinandersetzung mit den ‚poststrukturalen’ Philosophien beschäftigt hat: die Bricollage des Denkens, das Denken von Sprüngen, Zäsuren, Differenzen, die in keinem Identitäts-Pathos stillzustellen sind. Darin hat sich seine Position wesentlich von einer zur bloßen Geste erstarrten Verwaltung des ‚Erbes’ Kritischer Theorie unterschieden.“ (1)

Der Name Ulrich Sonnemanns wird im folgenden unverzichtbar sein. Ihn zu erwähnen, ruft nicht nur die beiden Zeitschriften in Erinnerung, mit denen wir damals experimentieren durften, die Fragmente (Kassel) und die Spuren (Hamburg), in denen Sonnemann immer wieder präsent war, und ebenso wenig nur das akademische Milieu, das vor allem in Kassel in Strenge und Anarchie wuchern konnte. Die universitäre und publizistische Konstellation, die sich da herstellte, berührt nämlich mehr noch eine Frage, die sich heute, einer Prägung Jacques Derridas folgend, im Titel dieses Symposions wiederholt: die nach der „unbedingten Universität“. Und wie drängend diese Frage ist, bedarf keiner Erläuterung. Wie könnte sich diese Universität den Bedingungen oder Bedingtheiten als entzogen erweisen, denen sie als instituierte Formation gleichwohl unterliegt? Wie könnte sie sich selbst den Sprüngen, Zäsuren, Differenzen aussetzen, von denen Tholen sprach, um zu „atmen“, sozusagen? Als „unbedingtes“, von keiner Bedingung, keiner Bedingtheit oder „Verdinglichung“ arretiertes Gefüge eines Wissens, das vielmehr allein sich verpflichtet wäre, ohne sich je einholen zu lassen?

Für eine solche Universität ließen sich „Bedingungen“ jedenfalls nicht mehr angeben; es sei denn die, dass sich diese universitas in einem Abstand, in einer Differenz, einem Sprung, einer Leerstelle zu sich selbst zu verhalten hätte. Diese Leerstelle wäre keine „Setzung“ mehr, sondern ein unvorhersehbarer Prozess, ein Gefüge von „Ver-Setzungen“; sie fände in sich deshalb auch keinerlei Zentrum mehr, sondern würde sich als Abstand zu sich in allem wiederholen, was als „universitäre Tätigkeit“ in Erscheinung tritt: in jedem einzelnen Seminar, jeder einzelnen Vorlesung, in jedem Text, der erscheint, in jedem Vortrag, der erarbeitet, in jeder Prüfung, die abgelegt wird. Es genügt aber, dies auszusprechen, um zugleich auf eine Unmöglichkeit zu stoßen. Schon im Lateinischen bezeichnet die universitas ja eine Wendung ins Eine, eine Versammlung in die geschlossene Gesamtheit von Formen des Wissens. Und insofern präzisiert dieses in unum vertere die Frage, spitzt sie sogar zu: Wie könnte diese universitas den unnachgiebigen Widerstand zu sich selbst aufbringen, der unverzichtbar wäre, um sie auf Abstand zu sich zu halten und insofern „Universität“ sein zu lassen?

Um sein zu können, was sie ist oder was sich von sich verspricht, um zu sein, was dieses Versprechen in seinem doppelten Wortsinn in Aussicht stellt und verfehlt, oder um zu markieren, worin sie sich selbst verpflichtet weiß, müsste sie zumindest beständig mit sich selbst brechen. Und „glücklich“ wird man vielleicht Augenblicke oder Konstellationen nennen können, in denen die Möglichkeiten solcher Brüche zumindest aufscheinen. In welch begrenztem Ausmaß, wie unzulänglich auch immer: Die beiden Zeitschriften, die Fragmente und die Spuren, die damals in Kassel und in Hamburg erscheinen konnten, sind möglicherweise – in jeweils unterschiedlicher Form – als Medium solcher Brüche wirksam geworden. Kaum noch vorstellbar jedenfalls wäre es heute, im universitären Betrieb Publikationen erscheinen zu sehen, deren Autoren und Redakteure allein ihrer Frage und ansonsten der Verpflichtung verpflichtet sind, dieser Frage nachzugehen. Dies allerdings war in Kassel seinerzeit möglich; der fast auratische Name Ulrich Sonnemanns schützte vor Zugriffen, er verwehrte administrative Übergriffe ebenso, wie es die Wehrhaftigkeit des Arbeitszusammenhangs tat, aus dem die Fragmente am Wissenschaftlichen Zentrum II hervorgingen. Und inständig nutzten die Autoren die Freiräume, die sich ihnen so auftaten.

Hamburg konstellierte sich da etwas anders, nämlich in einer Art künstlerischer Anarchie. Hier hatte der Präsident der HFBK Räume, außerdem Satz- und Druckmaschinen zur Verfügung gestellt, die er sich vom Versandhauskönig Michael Otto hatte finanzieren lassen, steuerte seinerseits eine Halbtagssekretärin bei, die für Texterfassung, Satz und Buchführung zuständig war, und außerdem einen Tutor, der die Druckmaschinen anwarf, während auf der hölzernen Empore über Filmen, Farbe, Platten und Walzen noch am Editorial gefeilt wurde. Redigiert und verantwortet wurde die Zeitschrift von einem von der Hochschule unabhängigen gemeinnützigen Verein, dessen vertragliche Gegenleistung allein darin bestand, dem Lehrpersonal der Hochschule jeweils ein druckfrisches Freiexemplar in die Fächer zu werfen. Alles in allem waren wir damit hinreichend ausgestattet, zu tun und zu lassen, was wir wollten.

Auf ihre Weise markierten die beiden Zeitschriften einen gewissen Abstand, in dem die universitäre Institution zu sich selbst auf Distanz ging. Diese Publikationen schlugen Öffnungen in ein institutionelles Gefüge, das sich auf ein gewisses Außen seiner selbst ebenso zu stützen riskierte, wie es sich diesem Außen exponierte und sich in ihm sogar verlieren konnte. Ich werde sogleich versuchen, die eminente Kraft beim Namen zu nennen, die dies im Zusammenhang der Kasseler Fragmente freisetzte und die uns Hamburger immer neu in Erstaunen und Bewunderung versetzte. Zunächst aber, was die Spuren betraf, so erschloss sich dem Blättchen, das wir da verfertigten und das im übrigen nur wenige hundert Abonnenten erreichte, im Nu ein Feld namhafter Autorinnen und Autoren, Künstlerinnen und Künstler, die mit theoretischen Beiträgen, mit Gesprächen, mit Fotoserien und anderen Arbeiten mitwirkten. Ulrich Sonnemann trug ebenso bei wie Hermann Schweppenhäuser, Jean-François Lyotard ebenso wie Jacques Derrida, Norbert Bolz so wie Jochen Hörisch, Elisabeth Weber wie Friedrich Kittler, Hans-Dieter Bahr wie Jean Baudrillard, Emmanuel Levinas wie Claude Lévi-Strauss, Vilèm Flusser wie Joseph Vogl; aber auch Künstler wie Sigmar Polke, Anna und Bernhard Johannes Blumes, Joseph Beuys, die Bechers oder Franz Erhard Walther, die für jedes Heft Fotoserien erarbeiteten oder zur Verfügung stellten. Nicht weniger wichtig aber waren die vielen anderen Autorinnen und Autoren, Studierende etwa, die auf diese Weise ein Forum fanden, in dem sie publizieren und ihre Überlegungen in prominentem Umfeld zur Diskussion stellen konnten. Das tat zwar seine Wirkung. Doch auf „Prominenz“ kam es in beiden Zeitschriften ganz zuletzt an. Akademische Titel, Orden und Ehrenabzeichen spielten keine Rolle, wo allein die insistierende Kraft eines Textes, einer Reflexion zählte. Und dies machten uns nicht zuletzt die Fragmente vor.

Natürlich verfolgten wir Hamburger mehr als nur aufmerksam, was da im Hessischen getrieben wurde. Nicht selten inspirierte es, was dann auf unseren Redaktionssitzungen im Lerchenfeld Thema war, und prägte ebenso den Zuschnitt, den wir unseren Beiträgen gaben. Noch konnte von einer „Zusammenarbeit“ zwar nicht die Rede sein; dennoch fand sie bereits statt, querte sie publizistisch, was der Medienbetrieb als Divergenz von „Formaten“ zu bezeichnen pflegt. Denn figurierten die Spuren als Magazin mit 64 Seiten, so erschienen die Fragmente als Zeitschrift, die regelhaft den Umfang eines Buches erreichte. Und sollten die Beiträge bei uns vier Druckseiten nicht übersteigen, konnten wir an den Fragmenten bewundern, was man den langen Atem des Denkens nennen könnte. Die „Schriftenreihe zur Psychoanalyse“, wie die Fragmente ihr Vorhaben selbst erläuterten, war jedenfalls keine, die sich einer klinischen Erfahrung verschrieben hätte. Was in dieser Zeitschrift an Horizonten einer „Psychohistorie“ eröffnet wurde, durchmaß historische Kontexte ebenso wie phänomenologische, strukturale wie ontologische, literarische wie medienspezifische, ästhetische wie politische. Ebenso frei wie streng, ebenso anarchisch wie insistierend einer anderen Lektüren philosophischer, psychoanalytischer und literarisch-ästhetischer Textur treu, eröffneten die Fragmente Szenarien eines Denkens, das ebenso unruhig wie genau, ebenso anarchisch wie gesetzesfreudig war.

„Nicht“, schrieb Christoph Tholen 1988 in den Fragmenten in einem „Rückblick“ auf diese Lektüren, „ob und wie Subjekte in Techniken sich vergegenständlichen, sondern umgekehrt, wie Machttechniken Subjekte machen, lässt uns nach Einschnitten wie Verbindungslinien des nicht-diskursiven Gefüges der Telekommunikation fragen. Deren Realgeschichte lässt Diskurse zur Nebensache werden und erreicht eine Präzision, die keine Rückkehr zu einer Geschichte entfesselter Geister oder eines sie verstehenden Geistes notwendig macht, vielmehr die kriegsinnovatorische Verschiebung von Technologien selber auftauchen lässt.“ (2) Ganz so also, als müsse der „Geist“ sich selbst entzogen werden, um seine andere Gegenwart denken zu können, jene des 20. Jahrhundert nämlich; ganz so, als könne dieser Geist nur „gegenwärtig“ werden, indem er sich einem Entzug dieser Gegenwart aussetzt, der seinen Begriff von sich selbst trennt, in sich differieren und Logiken der Wiederholung in ihm auftauchen lässt: so durchmaßen die Fragmente, die Christoph Tholens Geistesgegenwart in Kassel inspirierte, Philosophie und Psychoanalyse, Literaturtheorie und Medienarchäologien, Politiken und Körper, die Phantasmen des Religiösen, des Nationalen, befragten sie den Zwiespalt der Geschlechter, die Beziehungen von Stimme und Ohr, Computer und Psyche, interferierten sie zwischen Traum und Trauma, durchquerten sie die repräsentativen Ordnungen des Theaters ebenso wie die Mythen des Politischen. Autorinnen und Autoren fanden hier Orte eines irregulären und umso strengeren Schreibens, die Christoph Tholen ihnen öffnete: Samuel Weber wie Marianne Schuller, Michael Wetzel wie Slavoj Zizek, Jacques Derrida, Elisabeth Weber oder Hans-Dieter Gondek ebenso wie Anne Juranville und Martin Stingelin oder Jochen Hörisch, Thanos Lipowatz wie Gerburg Treusch-Dieter, Rado Riha wie Hans-Martin Schönherr-Mann, Alain Juranville, Rudolf Bernet, Pierre Legendre, Bernhard Dotzler, Sabine Gürtler und Christina von Braun, Sigrid Schade und Jutta Prasse, Bernhard Siegert und Rolf Schwendter, Friedrich Kittler, Wolf Kittler, Edith Seifert, Hans-Dieter Bahr, René Major, Emmanuel Levinas, Dietmar Kamper, Jean-Luc Evard, Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy, Jürgen Link, Jan-Philipp Reemtsma und viele andere, die hier zu Unrecht nicht genannt werden.

Wie, so fragte ich vorhin, kann sich die Universität auf Abstand zu sich halten, wie jenen Widerstand gegen sich selbst freisetzen, der ihr erst erlauben würde, Universität zu sein? Zumindest müsste sie „aussetzen“ im mehrfachen Wortsinn, in jeder ihrer Formen, in jedem ihrer Elementen und an allen ihren Plätzen: sie müsste sich zum einen selbst aussetzen oder exponieren; sie müsste zugleich aussetzen wie eine Maschine, die sich selbst unterbricht oder wenigstens ins Stottern gerät; sie müsste ebenso aussetzen im Sinn eines Aufschubs, einer Vertagung, so wie ein Prozess ausgesetzt wird, um möglicherweise und unter anderen Umständen wieder aufgenommen zu werden.

Nun hatten wir die Hamburger Spuren 1983 mit einem Gespräch eröffnet, das uns Michel Foucaults Großzügigkeit gewährte. Blochs Diktum im Ohr, Foucaults Werk inszeniere das „geistige Rattenreich unter den Menschen“, im Ohr aber ebenso das Diktum meines Freundes Khosrow Nosratian, dies bringe die conditio humana immerhin präzise auf ihren Begriff, war ich nach Paris gereist, um mit Gérard Raulet das Gespräch vorzubereiten, das er mit Foucault dann führte, während ich wegen fehlender Sprachkenntnisse nur das Tonband bedienen konnte. Der Text erschien bei uns unter der Überschrift Um welchen Preis sagt die Vernunft die Wahrheit? und fand dann später in Foucaults vierbändige Edition kürzerer Texte und Gespräche Eingang, diesmal unter dem Titel Strukturalismus und Poststrukturalismus.

Die Wirkung war unerwartet. Der Text störte in Frankfurt alle Missverständnisse einer „Kritischen Theorie“ auf, die sich von dem Gespräch aus Gründen bestätigt fühlte, die mir bis heute unklar geblieben sind, evozierte dafür aber zugleich und viel erfreulicher das Verständnis Christoph Tholens. Er meldete sich bei mir und fand, dass es doch schön wäre, wenn wir uns bei Gelegenheit mal treffen könnten. Demnächst wäre in Kassel wieder Symposion, und ich sollte doch vorbeischauen. Das tat ich auch und hörte nach seiner überaus freundschaftlichen Begrüßung, es hätte ihn angenehm berührt, ein Foucault-Gespräch in einer Zeitschrift gelesen zu haben, die von Karola Bloch herausgegeben werde, ja mehr noch: es hätte ihn geradezu überrascht und elektrisiert.

Ich fand das zwar weniger überraschend, und mich elektrisierte dafür Kassel. Denn während ich erleben konnte, wie Christoph Tholens stille, hintergründig-umsichtige und sensible Regie das Kasseler Wissens-Szenario ordnete, die Kasseler Gastfreundschaft blühen ließ, erinnerte ich mich eines Satzes, den Bloch in der Expressionismus-Debatte der 30er Jahre gegen Lukács gerichtet hatte: Vielleicht, so wandte er gegen dessen geschlossenen Totalitätsbegriff ein, sei die echte Wirklichkeit ja auch – Unterbrechung. So jedenfalls begann, was wir in vielen Jahren die „Zusammenarbeit“ von Fragmenten und Spuren nannten und was sich in Beratungen, Abstimmungen, Workshops und auf Symposien herstellte, die vor allem in Kassel, seltener in Hamburg stattfanden. Genau besehen, hatte diese Zusammenarbeit nämlich kaum eine feste Form, keine geprägte Struktur. Sie vollzog sich eher in situativen Konstellationen, und darin bestand zugleich ihre Wirksamkeit: denn wo, wenn nicht in porösen Rändern, sollte möglich sein, dass sich etwas „ereignet“ und vermeintliche Zentren verschiebt? Wo, wenn nicht im ungeschützten Denken, das sich auf irregulären Abwegen zu bewegen sucht, könnten andere als übliche Fragen aufblitzen und neue Korrespondenzen sich herstellen?

Nach einer ganzen Reihe glücklicher Jahre allerdings, irgendwann erschien dann in beiden Zeitschriften eine gemeinsame Erklärung, die das festschreiben wollte; in ihr hieß es: „Seit einigen Jahren besteht eine Zusammenarbeit zwischen den Zeitschriften FRAGMENTE (Kassel) und SPUREN (Hamburg). Sie leitet sich aus unterschiedlichen Fragestellungen her, die sich unabhängig voneinander entwickelten und zunehmend Analogien und Korrespondenzen aufwiesen. (...) Die Zeitschrift FRAGMENTE hat in den vergangenen Jahren als Periodikum existiert, das theoretischen Fragestellungen Raum bot, um ausführliche Gedankengänge zu entwickeln. Diese Möglichkeit soll weiterhin bestehen und ausgebaut werden. Die Zeitschrift SPUREN wird sich in der kommenden Zeit verstärkt um Formen einer ‚eingreifenden’ Schreibweise bemühen, die auf aktuelle Probleme reagiert oder ihnen zuvorkommt. Wir werden unsere Zusammenarbeit also durch eine deutlichere Arbeitsteilung und intensivere Kooperation markieren. Dies schließt eine enge gegenseitige Beratung und Unterstützung sowie eine wechselseitige Präsenz von Autoren in den beiden Zeitschriften mit ein.“ (3) Diese Erklärung erschien im selben Heft der „Spuren“, das auch mein Gespräch mit Christoph Tholen über Ulrich Sonnemann und die „Geistesgegenwart“ enthielt.

Wir schreiben also das Jahr 1993 und hätten gewarnt sein müssen. Nicht allein der Tod Sonnemanns zeigte an, dass eine Gestalt des Lebens alt geworden war und Abschied genommen werden musste. Absichtserklärungen wie die eben zitierte wollen ja nur festhalten und in Formen gießen, woran nicht festzuhalten ist. Wenige Monate später stellten die Spuren ihr Erscheinen ein. Nicht nur waren die 300.000 Mark erschöpft, mit denen ein großzügiges Geschenk Joseph Beuys’ unsere Redaktions-Kasse alimentiert hatte. Nicht nur zerfiel die Redaktion im Streit zwischen Kunst-Mythos und Dekonstruktion. Auch sahen wir uns in Hamburg mittlerweile einem Vulgär-Feminismus konfrontiert, der die Präsidialräume okkupiert hatte und jedes Denken und Schreiben zu verhindern begann; zunächst hatten wir uns nunmehr unserer Haut zu wehren.

Die Fragmente folgten wenig später. Sonnemanns Tod lud die Instanzen der Adminstration zusätzlich ein, den Spalt zu schließen, den sich die Universität Kassel erlaubt hatte, um überhaupt eine zu sein. Aber nicht nur die Mächte des sogenannten Neo-Liberalismus kündigten derart ihren Auftritt an. Das Kasseler Wissens-Laboratorium zerfiel, und ich habe mich oft gefragt, ob es nicht lohnend wäre, diese Zerfallsgeschichte einmal zu rekonstruieren. Wo aber könnte ein solcher Versuch einsetzen? Könnte vielleicht der Begriff des Symbolischen dazu taugen, der die Texte in Fragmenten wie Spuren immer neu querte, die Kasseler Symposien und Workshops inspirierte? Ebenso psychoanalytisch wie semiotisch, ebenso diskursanalytisch wie medienarchäologisch und -technisch, ebenso ökonomiekritisch wie machttheoretisch konnotiert, durchlief er unsere Diskurse, um sie zugleich zu separieren.

Denn bedeutet, ihm treu zu bleiben, vielleicht, die symbolverarbeitende Maschine und ihre Schaltpläne zu entziffern? Oder verlangt er danach, in eine Verwaltungswissenschaft Luhmann’scher Prägung überführt zu werden, wo er dann die Beziehungen zwischen System und Umwelt steuern soll? Mein Eindruck zumindest ist, dass dieser Begriff überall dort systemische Effekte freisetzt, wo er nicht seinerseits einer Dekonstruktion ausgesetzt wird. Nicht von ungefähr legt Derrida verschiedentlich nahe, noch der Begriff des Symbolischen könne Ordnungen der Zirkulation und des Vertrags entstammen. Dann aber würde er zwar Pflichten festschreiben helfen, von der Verpflichtung zur Gerechtigkeit aber zugleich dispensieren. Und vielleicht suchte uns dieser Dispens ja bereits heim, ohne dass wir es bemerkten. Das wäre immerhin eine Hypothese. Die Zerfallsgeschichte, die mir also vorschwebt, sollte sie denn irgendwann rekonstruiert werden, bliebe indes unvollständig, würde sie nicht auch die Heraufkunft von symbolverarbeitenden Medientechnologien befragen, die in den Fragmenten, auf Kasseler Symposien und deren Büchern so eingehend analysiert worden waren, um über dem Forschungszusammenhang ebenso zusammenzuschlagen, der sich diesen Analysen gewidmet hatte.

Gewiss hatten Fragmente und Spuren frühe Versuche unternommen, auf die Digitalisierung der Kommunikation zu antworten, die auch die Formen des Wissens zu durchsetzen und anders zu prägen begann. Ein Prozess, der natürlich auch die literarische Welt wissenschaftlich-künstlerischer Zeitschriften heimsuchte, dieses späte Erbe des 18. Jahrhunderts, das wir da angetreten hatten. Weshalb Tholen und ich, als wir von „Fido“ erfuhren, einem sich wechselseitig telefonisch anrufenden Netzwerk von Mailbox-Rechnern, auch in „Fido“ zu programmieren und Redaktionen, Redakteure, Autoren und Mitarbeiter mit 14400Baud-Modems der Firma „Supra“ auszustatten begannen, die mir ein Student aus den USA mitgebracht hatte. Doch obwohl der Aufbau einer einzigen Internet-Seite mit 14400 Baud heute kaum weniger als eine halbe Stunde dauern dürfte, wurde eine Geschwindigkeit, die 9600 Baud überstieg, damals noch als Anschlag auf die tele-technische Infrastruktur der Republik polizeilich verfolgt. Die Lesegeschwindigkeiten ließen insofern zu wünschen übrig; Anlass genug, eine gewisse kriminelle Energie an den Tag zu legen. Doch während wir noch unter Schreibtischen umherkrochen, um amtlichen Telefondosen zu Leibe zu rücken und mit Schraubenziehern und Kabelresten zu dekonstruieren, baute sich im Internet bereits auf, was unsere Träume von einem anderen Arbeitszusammenhang zunichte machte, weil gewaltig überbot. „Fido“ hieß der Hund des Programmieres, der das Netz ersann, und nicht von ungefähr bellt dieser Hund ja auch in Derridas Postkarte.

„Sobald es eine Spur gibt, hat die Virtualisierung schon begonnen“, schreibt Derrida in seinem Essay über Die unbedingte Universität, „das ist das Abc der Dekonstruktion. Neu sind aber das quantitative Ausmaß einer solchen gespenstischen Virtualisierung, ihr beschleunigter Rhythmus, ihre Reichweite, ihre kapitalisierende Potenz. Daher die Notwendigkeit, die Begriffe des Möglichen und des Unmöglichen zu überdenken. Wie wir wissen, führt diese neue technische ‚Stufe’ der Virtualisierung (Datenverarbeitung, Digitalisierung, virtuell unmittelbares Weltweit-Werden der Lesbarkeit, Tele-Arbeit etc.) zu einer Destabilisierung des angestammten Raums der Universität. Sie erschüttert deren Topologie, sie bringt ihre ganze Ortsverteilung durcheinander, nämlich die Ordnung ihres nach Forschungsgebieten und Fachgrenzen unterteilten Territoriums ebenso wie die Orte der akademischen Diskussion, den Kampfplatz, das battlefield theoretischer Auseinandersetzungen – und die gemeinschaftsstiftende Struktur ihres ‚Campus’. Wo ließen sich heute, im Cyberspace-Zeitalter des Computers, der Tele-Arbeit und des WWWeb, der gemeinschaftliche Ort und der soziale Zusammenhalt eines Campus noch ausmachen?“ (4)

Eine Frage, die offenbleibt und uns deshalb auch heute beschäftigt. Die gespenstische Beschleunigung, die Derrida beim Namen nennt, korrespondiert ja einem vermeintlichen Stillstand, der sich auch in den vielen Formen eines universitären Roll-Backs ausmünzt, einem gewaltigen Zeitstau gleich, dem Ulrich Sonnemann bereits auf einem der Kasseler Symposien einen irritierenden Vortrag gewidmet hatte. Zu unserer großen Freude durften wir ihn in den Spuren veröffentlichen.

Nun hatte es Sonnemanns Sprachartistik in einem Satz, der sich wie nicht selten bei ihm fast über eine ganze Manuskriptseite entfaltete, an einem Komma fehlen lassen, was uns beim Korrekturlesen sogar aufgefallen war. Der Befund aber nötigte zu umso eingehenderen Beratungen. Kein Redakteur in Hamburg, der sich nicht in den Text vertieft hätte, um anschließend seine Ratlosigkeit mitzuteilen; denn stets blieb das Ergebnis das nämliche: das Komma fehlte. Und dies nun war bestürzend. Was nämlich, wenn dieses Komma doch nicht fehlte und uns der Sinn, den dieses Fehlen eines Fehlens hervorrief, nur entgangen sein sollte? Wenn Sonnemann deshalb bei einer unbedachten, gar vorlauten Nachfrage unsererseits Anlass hätte finden können, uns das doppelte Fehlen des Beistrichs als notwendig, ja unverzichtbar zu demonstrieren, um bei dieser Gelegenheit ebenso darauf hinzuweisen, dass den Sinn des Textes im Ganzen verfehlt haben müsse, wer sich auf die Suche nach einem Komma machen wollte, wo doch erkennbar keines hingehörte? Zaghaft fragte ich telefonisch bei Christoph Tholen an, der sich schließlich bereit fand, den Text seinerseits zu studieren, aber zum selben Ergebnis kam: das Komma fehlte noch immer. Zumindest aufatmen konnte ich, als er versprach, beim Autor selbst um Hilfe nachzusuchen, was er auch tat. Wie er mir später mitteilte, versenkte sich Sonnemann beim Eintreffen der entsprechenden Anfrage nun seinerseits in den Text, wendete ihn eingehend hin und her, prüfte zeitintensiv Gedanken, Struktur und Duktus, um dann, mit allen Anzeichen äußerster Zerknirschung, einzuräumen, dass dieses vermaledeite Komma tatsächlich gefehlt habe. Er autorisiere die Hamburger also, es einzusetzen.

Mit Anekdoten wie dieser lässt sich immerhin ein wenig spielen, und nur deswegen erzähle ich sie hier. Das lateinische komma bezeichnet ja einen Einschnitt, eine Zäsur und einen Abschnitt; es rekurriert dabei aufs griechische kómma, das auch den Schlag, das Gepräge und eine Periode meint. War Sonnemann vielleicht deshalb fast bestürzter noch als wir, weil ihm aufging, es an einem solchen Einschnitt, einer solchen Zäsur fehlen gelassen zu haben? Und zwar in einem Text, der dem Begriff der Zeit gewidmet war, in dem er doch Zäsuren, Einschnitte, Abschnitte, Schläge markierte, einschrieb und entzifferte? Die Frage nach diesem Komma mag insofern marginal sein, doch ist sie umso virulenter. Das Komma schreibt jedem Corpus eine Unterbrechung ein, die ihn auf Abstand zu sich hält und Corpus sein lässt, ihn also nicht etwa abschließt, sondern öffnet. Und daran wäre hier zu erinnern, wo wir Abschied nehmen. Was nämlich könnte es heißen, diesen Abschied zu nehmen, zu übernehmen, auf uns zu nehmen wie eine Verpflichtung? Als Zäsur oder Einschnitt zwar, doch eben nicht als Punkt, der sich „machen“ ließe? Alles kommt jedenfalls auf diesen Einschnitt an und die Fragmentierung, die er hinterlässt und fortwirken lässt. Meinen Dank an Professor Tholen für sein unverzichtbares Wirken, seine Freundschaft und Hilfe verbinde ich deshalb mit diesem winzigen Beistrich.

Kein Punkt nämlich, lieber Christoph, der zu setzen wäre; nein, viel mehr – ein Komma.

 

 

(1) Hans-Joachim Lenger / Georg Christoph Tholen: Geistesgegenwart. Statt eines Nachrufs auf Ulrich Sonnemann, in: Spuren Nr.42, Hamburg 1993, S.56
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(2) Georg Christoph Tholen: Arsenale der Seele. Ein Rückblick in Stichworten, in: Fragmente 27/28, Kassel 1988, S.16f.
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(3) Redaktion Fragmente / Redaktion Spuren: Gemeinsame Erklärung, in: Spuren Nr.42, Hamburg: August 1993, S.72.
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(4) Jacques Derrida: Die unbedingte Universität, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S.25f.
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